Ein Gespräch mit der Hornistin und langjährigen Kursteilnehmerin Eva Lingemann
IAM: Seit wann haben Sie Kurse beim IAM besucht?
Eva Lingemann: Den ersten Kurs in Eschwege habe ich 2010 besucht und danach jedes Jahr, bis auf 2020, da gab es nämlich wegen Corona keinen Freizeiten. Ich war 2010 bis 2013 in Eschwege, also vier Mal, und 2014 das erste Mal in Buchenau; dort war ich wirklich jedes Jahr bis 2022.1
IAM: Sie waren als Hornistin dort. Können Sie sich noch an Ihren ersten Gedanken erinnern, warum Sie den Kurs in Eschwege besuchen wollten und mit welchen Gefühlen Sie gestartet sind?
E. L.: Ich kann Ihnen sagen, wie es dazu gekommen ist. Ich war zwölf und hatte gerade angefangen, vor zwei Jahren in der Bläserklasse der Angelaschule2 Horn zu spielen. Meine Eltern singen mit Irina Doelitzsch-Kaufmann3 zusammen im Chor und sie sagte, der Kurs wäre vielleicht etwas für mich. So haben meine Eltern mir den Kurs vorgeschlagen. Mit Jugendlichen wegzufahren und Musik zu machen, klang irgendwie reizvoll. Ich habe mir damals noch eine Freundin aus meiner Klasse geschnappt und wir sind zusammen hingefahren. Sie ist allerdings nach dem zweiten Mal nicht mehr mitgekommen. Ich weiß nur noch, wie ich mich vor Ort gefühlt habe. Aber davor? Wahrscheinlich war ich total aufgeregt.
IAM: Und in den nächsten Jahren, worauf haben Sie sich im Vorhinein gefreut?
E. L.: Das war vor allem die soziale Komponente, dass man mit so vielen Gleichgesinnten auf einem Haufen ist. An der Schule gab es ja auch viel Musik; ich war also nicht komplett allein mit dieser Leidenschaft. Aber mit 60 anderen Jugendlichen zusammen zu sein, die ihre Ferien opfern, um den ganzen Tag zu proben – da gehört ja schon etwas dazu, da hat man schon einmal viele gemeinsame Interessen. Ich kannte bis dahin auch nur das Blasorchester an der Schule. Als Horn hat man im Sinfonieorchester eine ganz andere Aufgabe als im Blasorchester. Im Blasorchester ist man mehr so ‚Dämmfleisch‘ und macht mit dem Rest der Blechbläser mit. Im Sinfonieorchester ist man viel präsenter, viel solistischer und exponierter. Da steht der Hornsatz für sich. Für mich war das sehr augenöffnend, was meine Rolle als Horn im Orchester angeht. So habe ich ‚Blut geleckt‘, im Sinfonieorchester spielen zu wollen. Ich habe gemerkt, es ist viel mehr ‚meins‘, mit dem Streicherklang zusammen zu spielen.
IAM: Wie läuft so ein Kurs in Eschwege und in Buchenau typischerweise ab?
E. L.: Der Kurs geht immer über eine Woche – in Eschwege von Freitag bis Freitag, in Buchenau von Sonntag bis Sonntag. Abends trudeln alle ein und man hat eine erste Tutti-Probe. Die Tage sind so aufgeteilt, dass man abends immer eine Tutti-Probe hat und tagsüber in Stimmgruppen probt; bei uns waren das immer alle Blechbläser*innen zusammen. Dann gab es noch den Chor; das war auch immer ein großes Highlight, bei dem gute Sachen herausgekommen sind. Wir Blechbläser*innen speziell hatten nachmittags immer noch eine kleine Extra-Kammermusikzeit, denn in dieser Zeit wurde ein Solistenkonzert geprobt und das ist oft nur mit Streichern besetzt – die Solist*innen werden immer ein Jahr zuvor unter den Teilnehmenden akquiriert. Wir als Bläser machen dann also Kammermusik und fahren an einem Tag der Kurswoche in die nächste Stadt – nach Stadt Eschwege bzw. beim Kurs in Buchenau nach Bad Hersfeld – und spielen die Kammermusik dort als Straßenmusik, um auf uns aufmerksam zu machen; denn die lokalen Leute wissen oft gar nicht, dass die Orchesterwoche stattfindet und wir ein öffentliches Konzert machen. Dafür ist immer ein Nachmittag reserviert. Als Blechbläserin habe ich also noch ein bisschen etwas anderes erlebt, als jemand, der ein Streichinstrument spielt.
IAM: Gibt es Rituale oder Traditionen in diesen Kursen?
E. L.: Sehr viele (lacht) ! Wo fange ich an? Was z. B. dazugehört ist, dass es einen bunten Abend gibt, an dem erst einmal sehr viel von den Dozierenden gestaltet wird. Sie sind total multitalentiert, können singen, verschiedene Instrumente spielen und geben immer wieder kleine lustige Intermezzi. Man wird am ersten Abend in Gruppen aufgeteilt – das passiert meistens über ein Puzzlespiel, damit die Gruppenbildung möglichst zufällig ist – und hat dann die Aufgabe, etwas für den bunten Abend zu erarbeiten. Dazu bekommt man einen Arbeitsauftrag, der im weitesten Sinne etwas mit dem Programm zu tun hat – wenn man z. B. Romeo und Julia spielt, muss es etwas mit Liebe zu tun haben. In der Mittagspause trifft man sich mit den Leuten dieser Gruppe, was schön ist, weil man die anderen Orchestermitglieder besser kennenlernt und nicht nur mit seinen eigenen Leuten abhängt.
Abends nach der Tutti-Probe gibt es ein Gute-Nacht-Lied. Dafür gibt es eine ganz lange Tapetenrolle, auf der der Text des Lieds draufsteht – Gute Nacht oder Der Mond ist aufgegangen, oder so etwas. Dann setzt sich einer der Dozierenden ans Klavier, das Licht wird ausgemacht und zwei halten die Rolle bzw. einer hält die Rolle, ein anderer rollt sie auf und noch ein anderer läuft mit einer Kerze davor. Alle sitzen dann auf dem Boden, oder liegen, und singen zusammen dieses Lied – das ist immer sehr schön.
Vor dem Essen wird immer Aller Augen4 gesungen – ein vierstimmiges christliches Danklied. Davon lernt man am ersten Tag seine Stimme und wenn alle zum Essen anstehen, wird es gesungen.
Beim Abschlusskonzert, das immer am letzten Abend stattfindet, werden nach dem Konzert nicht nur die Dozierenden von ihren jeweiligen Stimmgruppen beschenkt, sondern auch diejenigen, die in der Gruppe in irgendeiner Weise – sei es positiv oder negativ – aufgefallen sind. Sie kriegen dann irgendein witziges Geschenk.
IAM: Haben Sie dafür ein Beispiel?
E. L.: Das sind natürlich Quatschgeschenke. Bei meinem allerersten Jahr in Eschwege hatten wir Hörner nach einer langen Pause einen Einsatz, bei dem wir nie den richtigen Ton gespielt haben – auf dem Horn sind ja die Möglichkeiten für Töne, die aus dem Instrument herauskommen, wenn man hineinpustet, vielfältiger als bei anderen Instrumenten… Am Ende haben wir eine Fahrradhupe bekommen, angeblich „perfekt in As gestimmt“. Die habe ich nach 14 Jahren immer noch.
IAM: Diese Aufgaben, die Sie bekommen, werden die präsentiert?
E. L.: Ja, am bunten Abend gibt es eine Präsentation. Meistens ist das irgendeine Mischung aus Schauspiel mit Musik- und Comedy-Anteil. Es läuft fast immer auf so etwas hinaus.
IAM: Welcher Moment ist bei so einem Kurs der aufregendste?
E. L.: (überlegt) Ich finde es schwer, das pauschal zu sagen. Bei den ersten Malen war für mich der Anfang besonders aufregend, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Irgendwann hatte ich eine sehr feste soziale Gruppe – das Kennenlernen war dann nicht mehr das Aufregende. Dann war vielleicht die erste Tutti-Probe besonders aufregend, weil man nicht wusste: Welche Stimme werde ich abkriegen? Einmal habe ich bei einer Bruckner-Sinfonie das erste Horn gespielt. Das war für mich beim Konzert total aufregend.
IAM: Sie kriegen die Noten nicht vorher?
E. L.: Nee, das ist bei anderen Kursen vielleicht anders. Für mich macht das aber auch so ein bisschen den Reiz aus.
IAM: Man muss also sehr sicher vom Blatt lesen können?
E. L.: …Oder die Stimme in der Zeit einfach gut üben. Man wird ja gut ‚an die Hand genommen‘ und hat recht viel Zeit. Aber ja, es ist auf jeden Fall von Vorteil, wenn man gut vom Blatt lesen kann.
IAM: An welches musikalische Erlebnis denken Sie gerne zurück.
E. L.: Einmal haben wir das Abendlied von Rheinberger5 gesungen, das ist ein sechsstimmiges Stück aus der Spätromantik. Das haben wir richtig toll erarbeitet, konnten es auswendig und haben es dann am Abend vor dem Konzert im Dunkeln unter dem Sternenhimmel alle zusammen gesungen. Das war musikalisch mein Highlight.
IAM: Wer macht überhaupt den Chor?
E. L.: Mehrere Dozierende. Die Dozierenden sind ja insgesamt ein Team aus sechs bis acht Leuten, in dem jeder so seine Schwerpunkte hat. Den Chor machen immer Kristin Voigt und (überlegt) Martina Orth – die beiden auf jeden Fall.6 Tilman Jerrentrup macht meistens noch etwas Schmissiges.
IAM: An welche Dozent*innen werden Sie sich immer gerne erinnern?
E. L.: Alle! Dass ich jetzt das studiere, was ich studiere,7 hängt auch damit zusammen, dass die Dozierenden alle wirklich große Vorbilder waren, mit ihren vielfältigen Talenten und Interessen.
IAM: Das würde zu meiner nächsten Frage führen, wie Sie durch die Kurse musikalisch und menschlich geprägt wurden.
E. L.: Sehr stark! Einen großen Teil meines engen sozialen Umfelds kenne ich von den Kursen; also Leute, die nicht aus Osnabrück kommen und die ich sonst nicht kennengelernt hätte. Ich habe Menschen gefunden, die sehr ähnlich ticken wie ich. Während in der Stadt, in der man aufwächst, natürlich nicht alle ähnliche Interessen haben, finden man diese Menschen in Eschwege in geballter Form.
Wie gesagt, meine letztendliche Studien- und Berufswahl hängt in gewisser Weise mit den Kursen zusammen. Es hat sich auch aus vielen Blechbläser*innen, die in Buchenau waren, ein neues Ensemble gegründet; wir heißen „Blechkuchen“. Das ist aus der Idee geboren, dass wir gemerkt haben, wir werden zu alt für den Kurs – offiziell darf man teilnehmen, bis man 24 Jahre alt ist. Wir sind alle in etwa gleich alt und haben vor zwei Jahren gesagt: Wir machen jetzt einen sauberen cut und danken ab. Wir hatten uns vor ein paar Jahren überlegt, dass wir gerne weitermachen wollten und haben eben dieses Blechblasensemble ins Leben gerufen, in dem wir einmal im Jahr Arbeitsphasen machen und uns komplett selber organisieren; jetzt sind wir auch ein Verein. Das wäre ohne die Kurse nicht möglich gewesen.
IAM: Wenn Sie im Kontext des IAM-Jubiläums einen Wunsch frei hätten, welcher würde das sein?
E. L.: Ich würde dem IAM wünschen, dass noch mehr Leute darum wissen, dass es ihn gibt und was für großartige Angebote es dort gibt. Ich merke immer wieder, wenn ich sehr begeistert davon erzähle, dass Leute durchaus schon auf Musikfreizeiten waren, ihnen der IAM aber kein Begriff ist.
IAM: Haben Sie denn auch Kurse anderer Veranstalter besucht?
E. L.: Es gibt vom Landesmusikrat einen Musik-Mentoren-Kurs, den ich mit 15 besucht habe. Das war aber nur einmalig.
IAM: Zum Schluss eine philosophische Frage: Welches besondere Potenzial hat Musik und wie wird das in solchen Kursen deutlich?
E. L.: Musik bringt auf jeden Fall Menschen zusammen. Sie kann unglaubliche Momente erzeugen – der Verbundenheit oder überhaupt des musikalischen Erlebens; Genuss. So platt es klingt: Das Musikmachen kann schon irgendwie Grenzen überwinden, weil man in einem Riesen-Orchesterapparat mit so vielen Leuten zusammen ist. Man hat nicht mit allen geredet, ist auch nicht mit allen einer Meinung, aber kann trotzdem mit allen etwas Tolles bewirken und das Publikum teilweise mitnehmen.
Wenn man jetzt ganz rational darauf blickt, ist es ja auch so: Wenn man ein Instrument über Jahre spielt und da dran bleibt, werden auch viele soft skills erprobt. Ich kann mich länger konzentrieren, ich bleibe an etwas dran; wenn ich mit anderen zusammenarbeiten möchte, muss ich auf sie hören, muss mich möglicherweise anpassen oder zurücknehmen. Das sind ganz viele Dinge, die im ganzen Leben, wie ich finde, hilfreich sind und beim gemeinsamen Musikmachen erlernt werden können – natürlich nicht müssen, man kann sie auch woanders lernen, aber können. Das sind für mich die Hauptaspekte.
IAM: Vielen Dank für das schöne Gespräch! (Durchgeführt und aufgezeichnet von Gabriela Lendle.)
1 Es handelt sich um die folgenden JugendMusikwochen: Junge Eschweger Philharmonie und Junge Hessische Philharmonie (auf Schloss Buchenau).
2 Gymnasium in Osnabrück.
3 Irina Doelitzsch-Kaufmann, Mitarbeiterin der IAM-Geschäftsstelle und zuständig u. a. für die Kursorganisation.
4 Heinrich Schütz, Aller Augen warten auf dich, Herre, SWV 429.
5 Josef Gabriel Rheinberger, Abendlied, aus: Drei geistliche Gesänge op. 69, Nr. 3.
6 Weiter macht Ulrike Jordan die Chorarbeit.
7 Eva Lingemann studiert Musik und Deutsch im Lehramtsstudium an der Universität Hamburg.