Ein Gespräch mit Burchard Schäfer, langjähriger Orchesterleiter der JugendMusikwochen in Eschwege und Buchenau
IAM: Seit wann leiten Sie schon Kurse beim IAM?
Burchard Schäfer: Seit nunmehr 30 Jahren. Der erste Kurs fand im Jahr 1995 statt und nächstes Jahr feiern wir 30 Jahre IAM-Kurs in Eschwege1. Das wird dann auch mein letztes Jahr sein. Dies habe ich letztes Jahr beim Abschlusskonzert im Beisein unseres Generalsekretärs, Herrn Koch, schon angekündigt. Ich wollte eigentlich nach 25 Jahren aufhören, aber dann kam Corona dazwischen. Alles ging so ein bisschen ‚den Bach runter‘ und ich dachte: Den Kurs kannst du jetzt so nicht verlassen. Daher habe ich doch noch etwas ‚draufgesattelt‘ und kann beruhigt den Stab weitergeben.
IAM: Ist während der Corona-Epidemie denn ein Kurs ausgefallen?
B. S.: Ja, ein Kurs ist ausgefallen, das war der an Ostern. Danach überlegten wir, dass es sinnvoll sei, den Oster-Kurs auf den Sommer zu legen, da sich die Lage bezüglich Corona im folgenden Jahr genauso gestalten könnte. Mit dieser Einschätzung lagen wir richtig, der Kurs an Ostern wäre ausgefallen. Allerdings war der Sommer für uns sehr anstrengend, weil wir zuerst die Großen gemacht haben – das sind die 16- bis 25-Jährigen in Buchenau2 – und danach die Jüngeren des Eschwege-Kurses. Andersherum wäre es besser gewesen, aber das war nicht möglich. So konnten wir zumindest den Oster-Kurs auffangen, und danach ging es wieder normal weiter.
IAM: Wie kam denn der erste Kurs zustande?
B. S.: Ich bin 1994 von Adolf Lang3 angefragt worden. Damals befand ich mich in Oberwesel4; mit 15 Jahren nahm ich das erste Mal dort teil. 10 Jahre später, mit 25 Jahren fragten mich die Dozenten kurz vor der Woche, ob ich als Dirigent aushelfen könnte; es fehlte nämlich ein Dozent. Sie wussten, dass ich auch Dirigieren studierte, und fragten mich, ob ich Wagners Meistersinger und Ein Amerikaner in Paris einstudieren wolle. Ein Amerikaner in Paris hatte ich damals gerade mit dem Studenten-Sinfonieorchester Marburg aufgeführt und Wagner bereitete ich mit ihnen für das nächste Semester-Abschlusskonzert vor. Da sagte ich: Das passt ja fast wie die Faust aufs Auge, das ist ja unglaublich! Das sind die zwei Stücke, die ich schon gut beherrsche – ich hatte damals noch nicht viele Repertoire-Stücke. So habe ich zugesagt.
Meine Eltern waren damals in Oberwesel nach dem Abschlusskonzert zugegen, als Adolf Lang mir anbot, eine Musikwoche zu leiten. Ich sagte: „Oh, das freut mich sehr. Ich fühle mich sehr geehrt, ich hätte aber zwei Bedingungen…“ Ich weiß noch, dass mein Vater sehr ungehalten war: „Das kannst du doch nicht machen, Bedingungen stellen!“ Herr Lang beruhigte mit den Worten: „Lassen Sie ihn doch mal aussprechen, was will er denn?“ Damals war es üblich, ein Orchester mit Orff-Instrumenten und Blockflöten aufzufüllen. Ich antwortete: „Ich stelle mir ein Symphonieorchester bestehend aus 10- bis 15-Jährigen vor, das wirklich nur aus Orchester-Instrumentalisten besteht, ohne Orff-Instrumente und Blockflöten.“ Herr Lang meinte: „Das haben wir in dieser Form noch nicht, aber das können wir gerne einmal versuchen. Und die zweite Bedingung?“ „Ich möchte das Team selbst zusammenstellen, sodass man die Leute kennt, mit denen man gut und gerne zusammenarbeiten kann. Dann bereitet das Arbeiten nämlich auch sehr viel Freude.“ Damals war es zum Teil so, dass Dozenten zugelost wurden und das hat nicht immer gepasst. Im folgenden Jahr ging es dann los.
Beim ersten Mal nahmen in Eschwege, glaube ich, nur 35 Schüler*innen teil. Eine Blockflöte spielte jetzt doch mit, weil sich keine Querflöte angemeldet hatten und wir besaßen einen sehr guten, sehr jungen Oboisten. Er wurde später Solo-Oboist in Skandinavien und sitzt heute als Solo-Oboist in einem namhaften deutschen Orchester. Damals konnte er – wir spielten Schuberts Unvollendete –noch nicht das 1. Thema rhythmisch korrekt spielen, setzte immer wieder die Oboe ab und zählte nicht richtig (B. S. singt das Thema der Unvollendeten.). Er hatte aber schon damals einen wunderschönen Ton. Nach etwa drei Tagen sprach ich ihn an: „So, jetzt spielen wir mal ganz viele Stücke für Oboe und Klavier vom Blatt.“ Dann praktizierten wir eine knappe Stunde das Prima-Vista-Spiel. Anschließend meinte ich: „Ein Stück von den gespielten Stücken nehmen wir beim Kammermusik-Abend und spielen es dort erneut vom Blatt. Du setzt nicht ab, egal, was passiert. Wenn Du rauskommst, setze irgendwo ein, ich finde das schon!“ Er ist zwar wieder rausgekommen, hat aber irgendetwas weitergespielt, improvisiert und nicht abgesetzt. Ich habe ebenfalls etwas improvisiert.
Anschließend sagte unser Dozent Tilman Jerrentrup, der jetzt auch immer noch in Buchenau mit dabei ist: „Burchi, was hast du denn da für einen Mist gespielt?“ (lacht). Die Orchestermitglieder lobten den Oboisten: „Das war ja fantastisch!“ Die hatten die Improvisationssequenz nicht mitbekommen. Und seit diesem Zeitpunkt setzte der Oboist im Orchester nicht mehr ab und spielte ein hervorragendes Solo im Konzert. Es war wie ein umgelegter Schalter. Sein Lehrer hat uns hinterher angerufen: „Was habt ihr mit ihm gemacht? Das gibt's doch gar nicht! Der ist wie verändert!“ Viele Jahre später durften Tilman und ich ihn, als er schon Profi war, mit dem Haydn-Oboenkonzert im Orchester begleiten. Es erfüllte uns mit Freude, ihn ein Stück des Weges seiner musikalischen Entwicklung begleitet zu haben.
IAM: Darf ich noch einmal mit Blick auf das Team fragen: Ist jemand von den alten Leuten noch dabei?
B. S.: Ja, Martina Orth ist noch dabei und Tilman Jerrentrup. Martina Orth ist Dozentin bei beiden Musikwochen und Tilman Jerrentrup mittlerweile nur noch bei der Musikwoche im Sommer in Buchenau. Die anderen sind nicht mehr dabei.
IAM: Wurden Ihre Erwartungen denn damals erfüllt?
B. S.: Beim ersten Mal lief alles wunderbar. Beim zweiten Mal hatten wir 45 Schüler*innen, es war ein 18-Jähriger dabei und die Gruppe war sehr schwierig zu händeln, weil sie zum Teil undiszipliniert war. Wir haben dann, völlig unerfahren, noch mehr geprobt. Das war kontraproduktiv. Mein Bratschen-Professor erklärte mir später: „Ihr müsst Sport mit denen machen, wenigstens eine Stunde pro Tag!“ Und das setzten wir im dritten Jahr um. Seitdem läuft alles weitgehend perfekt. Beim zweiten Kurs saßen wir am vorletzten Abend mit den Dozenten zusammen und überlegten, ob wir den Kurs weiterführen sollten. Seit dem dritten Mal lief aber alles rund und hat sich dann auch immer weiter verbessert. Es ist sehr begeisternd, aber auch sehr anstrengend. Deswegen will ich den Kurs nach 30 Jahren jetzt an Jüngere abgeben.
IAM: Wenn man jetzt zu den Teilnehmenden schaut, haben sich die Erwartungen der Teilnehmenden über die Jahre verändert? Es gibt ja vielleicht auch welche, die länger dabei sind.
B. S.: Die Erwartungen sind eher gleichgeblieben. Die meisten wollen in einer angenehmen, guten Atmosphäre und Gemeinschaft musizieren, sich wohlfühlen und Spaß haben. Es gibt sehr viele, die wiederkommen und sehr lange dabei sind; zum Teil schon fünf bzw. sechs Jahre bei den Kleinen und 10 Jahre bei den Großen. Ich weiß von Tabea E., dass sie sogar einen Schrein zu Hause in ihrem Zimmer hat, in dem alle Sachen aufbewahrt werden, die sie bei den Kursen bekommen hat – häufig bekommt man Kleinigkeiten, wenn man sich auf der Woche hervorgetan hat, so kleine Geschenke. Dafür gibt es am Ende immer eine Verleihung. Wenn jemand beispielsweise zu spät kommt, erhält er eine Uhr (lacht), eine leichte Quarzuhr für einen Euro. Diese Verleihung findet unmittelbar nach dem Konzert im Saal statt und ist auch für die Eltern und Angehörigen sehr witzig. Die Teilnehmerin Tabea hat also wirklich einen Schrein für sich eingerichtet und hält den immer noch in Ehren. Das finden wir natürlich toll. Der Kontakt zu Ehemaligen ist auch immer noch da. Wenn ich zum Beispiel in Köln in der Musikhochschule oder auf Klassenfahrt bin, treffe ich Ehemalige, die zum Teil dort studieren. Das sind immer beglückende Momente.
IAM: Wie ist denn der typische Ablauf von so einem Kurs?
B. S.: Wir haben den Ablauf so ein bisschen an den Kurs von damals in Oberwesel unter Dirk Elée und Johannes Immer angepasst. Dort gab es beispielsweise einen sogenannten ‚Englischen Abend‘, an dem man nur vom Blatt spielt, weil die Engländer sehr gut vom Blatt spielen können. Bei ihnen ändert sich bis zum Konzert nicht mehr so viel wie bei den Deutschen, bei denen das Vom-Blatt-Spiel am ersten Abend etwas chaotisch ist und sich durch die Stimmproben ganz extrem verbessert. Morgens starten wir nach dem Frühstück mit Stimmproben, anschließend ist Chor. Nach dem Mittagessen ist Zeit für Kammermusik anschließend Sport, Kammerorchester und erneut Stimmproben. Abends kommen dann alle zum Tutti. Zusätzlich veranstalten wir noch einen ‚Bunten Abend‘. Die Teilnehmenden erhalten Gruppenaufgaben, und zwar am ersten Abend schon. Wir als Dozenten gestalten dann so ein kleines musikalisches Stück oder ein Theaterstück – diesmal war es ein Puppenstück, das wir bis zu einem bestimmten Punkt gespielt haben und das dann die Teilnehmenden weiterschreiben und aufführen sollten. Das Stück bezieht sich immer auf das musikalische Programm.
IAM: Das heißt, Sie bereiten solche Sachen auch richtig im Vorhinein vor?
B. S.: Ja, genau das machen wir. Wir treffen uns immer beim Vorbereitungstreffen; das war jetzt auch wieder zweimal in Limburg. Dort übernachten wir in der Regel und arbeiten nachmittags, abends und auch am nächsten Morgen noch und dann wird alles aufgeschrieben. Zum Teil tippen wir dann schon die Theaterstücke für uns. Wir hatten auch gelegentlich improvisiert; meistens ging das auch ganz gut und die Teilnehmenden hatten sehr viel Spaß, aber für uns war das nicht so zufriedenstellend. Seitdem schreiben wir alles ganz strukturiert auf.
IAM: Blattspielabend, ‚Bunter Abend‘, gibt es noch irgendein Ritual?
B. S.: Wir veranstalten ein Kammermusikkonzert, meistens am Vormittag, und gehen danach in Eschwege in die Stadt zum Markt. Dort musizieren wir, um für das Konzert zu werben. Ähnliches gilt auch für Buchenau. Und vor den warmen Mahlzeiten singen wir immer den vierstimmigen Satz Aller Augen warten auf dich.
IAM: Gibt es denn einen Moment, der bei einem Kurs besonders aufregend ist? Oder auch mehrere?
B. S.: Das ist eigentlich der Moment, wenn alle ankommen. Der ist immer ganz spannend. Und dann der Moment, wenn wir zum ersten Mal im Orchester spielen. Denn wir wissen ja nicht, auf welchem Niveau die Teilnehmenden sich befinden. Einmal hatten wir den Fall, dass die Teilnehmenden auf der Woche der Kleinen besser waren als die auf der Woche der Großen. Das war bei den Streichern erstaunlich. Aber in der Regel ist das nicht so. Wir hatten auch einmal den Fall, dass wir ein Stück des Programms nicht umsetzen konnten. Zum Glück hatte ich noch ein deutlich leichteres Stück an Filmmusik dabei; dies bereitete allen sehr viel Freude.
IAM: Stücke umarrangieren müssen sie nicht, oder?
B. S.: Nein, wir nehmen immer Originalstücke oder bereits arrangierte Stücke. Gelegentlich schreiben wir noch einige Stimmen, vor allem bei transponierenden Instrumenten.
IAM: Was ist denn Ihrer Ansicht nach wichtig, damit sich ein Gemeinschaftsgefühl, so ein Wir-Gefühl, zwischen den Teilnehmenden entwickelt?
B. S.: Ein Wir-Gefühl entsteht am besten, wenn sich jeder auch mit Namen kennt. So fängt die Stimmprobe damit an, dass sich jeder kurz vorstellt. Die anderen sollen sich schon einmal die Namen merken. Ich nehme dann immer jemand anderen dran, der noch einmal die Namen sagt. Die Teilnehmenden wissen das schon. So eine kleine Prüfung ist für mich auch ganz gut, weil die jüngeren Leute die Namen in der Regel besser und schneller können als wir – wobei wir einige natürlich auch seit etlichen Jahren kennen. Dieses Jahr waren von den 70 Teilnehmenden auf der Osterwoche über 30 das zweite Mal oder noch häufiger da.
IAM: Sie sprachen schon von einer Teilnehmerin, die schon sechs Mal in Eschwege war. Ist das sozusagen die Spitzenreiterin?
B. S.: Sie ist inzwischen sogar zu alt für die große Musikwoche in Buchenau. Ich glaube, sieben Mal ist der bzw. die Spitzenreiterin auf der Osterwoche. Das kommt nur ganz selten vor. Nach einem Jahr kriegen die Teilnehmenden zum Beispiel ein „Nimm Zwei“, damit sie das nächste Mal wiederkommen. Die Zweijährigen kriegen nichts, damit sie Hunger auf das Dreijährige haben. Für die Dreijährigen und Mehrjährigen gibt es immer wieder etwas anderes, je nachdem, was wir so finden.
IAM: Haben sich längerfristige Kontakte oder Freundschaften aus den Kursen ergeben?
B. S.: Oh ja. Beispielsweise in Marburg versammeln sich immer wieder sehr viele Teilnehmende. Einmal hat mir die Mutter eines Teilnehmers eine heimliche Aufnahme geschickt. Da konnte ich hören, wie sie gejammt, zum Teil auch gesungen haben – die ganzen Beatles rauf und runter, so ein Medley, das wir beim Kurs auch schon einmal gesungen hatten. Das ist wunderbar, dass die Teilnehmenden sich einfach treffen, um zu musizieren und Spaß zu haben. Es gibt auch etliche, die in Berlin zusammengezogen sind, auch von den Dozenten. Lorenz Winker5 zum Beispiel hatte sich als Student mit einigen von der Musikwoche zusammengetan und eine WG gegründet. Inzwischen sind die Mitbewohner verheiratet und ausgezogen. Die Kontakte sind aber immer noch sehr gut und eng.
IAM: Sie sind ja Musiklehrer an einem Gymnasium6. Was kann man von den Kursen für den Unterrichtsalltag mitnehmen, und welche Erfahrungen wären im normalen Unterrichtsalltag nicht möglich, die bei Kursen aber vielleicht möglich sind?
B. S.: Zum einen die Stückauswahl, gerade bei den Jüngeren. Die Kursteilnehmer*innen in Eschwege sind nach einer Woche Üben in etwa so gut wie unser Schulorchester; die Großen sind deutlich besser. Das Schulorchester – also unser Schulorchester – kann die gleichen Stücke spielen, zum Beispiel Fluch der Karibik, James Bond-Medley oder die Romeo und Julia-Ouvertüre von Tschaikowsky. Da sieht man auf den Kursen: Was funktioniert und wie funktioniert es? Das kann ich sehr gut in die Orchesterarbeit in meiner Schule einbauen. Dort bin ich allerdings allein und habe niemanden, der zuarbeitet beziehungsweise Stimmproben macht. Genau da haben wir sonst sehr viele, und wir verstehen uns wirklich als Team. Es gibt da keinen Chef. Jeder ist absolut gleichberechtigt, und das ist auch ganz wichtig. Im Schulorchester können wir natürlich wiederum Sachen ausprobieren, die wir dann in den Kurs mit übernehmen können.
Was aber auf der Musikwoche ganz anders ist: Wir duzen uns dort alle! Das dürfen wir in der Schule nicht. Das ist etwas sehr Schönes und eben auch Freieres auf der Musikwoche. Die Kursteilnehmer*innen singen dort auch. Im Schulorchester habe ich auch einmal versucht, dass beim James Bond-Medley gesungen wird. Es gibt einige sehr gute Sänger*innen, die auch beim Kurs dabei sind. Aber viele wollten das nicht und haben richtige Hemmungen gehabt. Da kann ich nicht gegenarbeiten. Ich führte dieses Stück einmal im Studenten-Sinfonieorchester Marburg auf und es war der Renner in der Zugabe gewesen, als alle ihr Instrument ansetzten und dann auf einmal gesungen haben: „For your eyes only“. Das war beeindruckend und das hatte ich mir ähnlich auch für das Schulorchester vorgestellt. Aber manchmal geht es eben nicht.
IAM: Wenn Sie zum IAM-Jubiläum einen Wunsch frei hätten, wie könnte der aussehen?
B. S.: Ich lasse mich da überraschen. 100 Jahre, das ist ja eine richtig große Zahl; es sind wahnsinnig viele Leute schon durch alle Kurse durchgegangen. Nochmals, ich lasse mich überraschen7. Ich denke einfach, dass das Jubiläumswochenende eine Begegnung mit Leuten sein wird, die auch gerne Musik praktizieren und darüber reden und sich in der Gemeinschaft wohlfühlen. Diese Begegnung, und dass man eben auch ein bisschen musizieren und Musik erleben kann – das reicht mir schon.
IAM: Ganz zum Schluss eine etwas philosophische Frage: Welches besondere Potenzial hat Musik und wie wird das in den IAM-Kursen deutlich?
B. S.: Musik ist verbindend. Das ist, glaube ich, das Wichtigste. Das Musikmachen kann auch völkerverbindend sein. Wir sehen auch bei uns auf den Musikwochen, dass internationale Gäste kommen, wenn auch nicht viele; so hatten wir Gäste aus unseren Nachbarländern und Spanien. Teilnehmende aus Kanada und den USA waren auch schon da. Was besonders ist: Die Schüler*innen oder die Jugendlichen, die musizieren, sind immer – also, so haben wir es kennengelernt – sehr leicht zu handhaben. Sie wissen sich zu benehmen und ansonsten kommunizieren sie untereinander. Also, die passen aufeinander auf. Wenn etwas Schlimmeres vorfällt, kommen sie sofort zu uns. Das Verbindende, dieses gemeinsame Erlebnis zu haben, das ist eigentlich das Schönste. Das Konzert ist etwas ganz Besonderes, davon sind die Teilnehmenden und wir Dozenten begeistert. Früher hatten wir nach dem Konzert zum Teil Probleme, gerade bei den 15-Jährigen, die dann gerne noch Alkohol trinken wollten. Komischerweise – vielleicht auch, weil wir jetzt erfahrener sind – ist das heutzutage überhaupt kein Problem mehr. Gar nicht mehr. Also, sie bringen auch nichts mit, gar nichts!
IAM: Worauf führen Sie das zurück? Darauf, dass Sie sich schon kennen?
B. S.: Darauf, dass wir uns kennen und dass wir sagen: Hier wird nicht geraucht und nicht getrunken – also auf der kleinen Musikwoche. Auf der großen dürfen die Teilnehmer*innen ab 16 Jahren natürlich auch Bier trinken, aber das wird nicht ausgenutzt. Und wenn – wir hatten eine Zeit, in der das etwas zu stark war –, dann wird das eben auch kommuniziert. Das ist jetzt auch wieder völlig in Ordnung; die machen dann mit und sehen das ein. Nach wie vor ist es immer noch eine große Freude, auf den Kursen Musik zu machen. Das Schönste – das Entspannteste – ist eigentlich, wenn man auf der Bühne steht und alle anwesend sind und man gemeinsam beginnt, Musik zu gestalten. Ich sage dann immer: Es ist völlig egal, was passiert, aber lasst uns zeigen, dass wir Freude an der Musik haben; dass das rüberkommt. Ich sage auch immer: Lächelt mich mal an, denn ich stehe ganz alleine da. Dann gebt ihr mir auch ein bisschen Input, und dann fühle ich mich wohler.
IAM: Dann ist sicherlich das Abschlusskonzert der Höhepunkt der Woche?
B. S.: Ja, das ist sicherlich der Höhepunkt. Anfangs denkt man immer, das geht ja relativ langsam los, und dann: Oh, wir haben jetzt schon Mitte der Woche! Das geht rasend schnell. Dann ist das Konzert schon da und ist auch schnell wieder vorbei. Das ist dann immer schade. Der bunte Abend ist für uns auch ein kleiner Höhepunkt, da es häufig sehr lustig wird. Ebenso die Stubendurchgänge am Abend bilden kleine Höhepunkte. Wir achten darauf, dass die Teilnehmer*innen wirklich Ordnung halten – tagsüber können sie ‚leben‘, aber abends soll es sauber sein. Sie ordnen dann auch alle schön ihre Schuhe und es ist alles wunderbar sauber; und dann schlafen sie eben auch besser. Das haben wir über die vielen Jahre gemerkt. Die Teilnehmer*innen können uns auch bestechen – natürlich nicht mit Geld, sondern mit Musik, oder indem sie in irgendeiner Form einen Vortrag gestalten. Sie machen dann so kleine Darbietungen – die mussten wir allerdings drastisch kürzen, weil sie zum Teil zehn Minuten oder eine Viertelstunde gedauert haben. Wenn wir dann durch 16 Räume gehen, kann man sich vorstellen, dass wir erst um Viertel nach zwölf fertig waren. Jetzt sind die Vorführungen auf fünf Minuten begrenzt, z. B. Quizze oder irgendwelche sportlichen Übungen – man muss in dem Zimmer kegeln oder so etwas. Häufig werden diese schon zuhause vorbereitet. Für das beste Zimmer gibt es dann eine Belohnung; es bekommt frei, wenn wir aufbauen. Und die Gewinner erhalten außerdem von uns Geld, von dem sie sich für jeden einen Eisbecher kaufen. Dies wollen alle gerne erreichen; das ist die Motivation für ein sehr ordentliches aufgeräumtes Zimmer.
IAM: Herzlichen Dank für dieses ausführliche Gespräch. (Durchgeführt und aufgezeichnet von Gabriela Lendle.)
[1] Junge Eschweger Philharmonie, Orchesterwoche in Eschwege für Schüler*innen von 11 bis 16 Jahren, die seit 1995 jährlich um Ostern herum stattfindet.
[2] Junge Hessische Philharmonie, Orchesterwoche in Schloss Buchenau (Eiterfeld) für Schüler*innen und junge Erwachsene von 16 bis 24 Jahren im Sommer
[3] Adolf Lang, Generalsekretär des IAM 1987 bis 1999
[4] Jugend-Musikwoche des IAM in Oberwesel vom 1980 bis 1994
[5 Lorenz Winker, Dozent der Jungen Hessischen Philharmonie
[6] Burchard Schäfer unterrichtet die Fächer Musik und Deutsch am Ubbo-Emmius-Gymnasium in Leer (Ostfriesland).
[7] Beim IAM-Jubiläumswochenende im Kloster Schöntal (100 Jahre IAM - 27. bis 29.09.2024) wird Burchard Schäfer das Orchester-Atelier leiten.