Ein Gespräch mit Adelheid Füchte, langjährige Teilnehmerin auf verschiedenen Orchesterkursen des IAM
IAM: In welchen Jahren haben Sie Kurse des IAM besucht?
Adelheid Füchte: Das muss 1976 gewesen sein, als ich bei meinem ersten Kurs war. Die Kurse besuche ich mit einer Familienpause von zirka 15 Jahren bis heute. Der letzte war jetzt erst in Remscheid.1
IAM: Können Sie ungefähr abschätzen, wie oft Sie dort gewesen sein müssen?
A. F: Zum Teil sind es drei Kurse im Jahr gewesen, manchmal auch vier – also, ich war häufig da. Ich habe keine Ahnung, wie viele Kurse das waren.
IAM: Welche Kurse waren das denn?
A. F.: Der erste Kurs war der in Bad Segeberg. Es ist bis heute noch mein Traum, dass so etwas wieder einmal zustande kommt. Gisela Jahn sagt ihnen vermutlich nichts mehr. Sie war damals eine der ersten Dirigentinnen und hat den Kurs gemacht.2 Das war für mich umwerfend. Eine Woche konzentriert – und konzentriert heißt, den ganzen Tag bis in die Nacht hinein – Musik machen auf einem Niveau, das man sonst mit Laien kaum schafft bzw. zu der Zeit kaum schaffte. Das war der erste Kurs, den ich dann drei-, viermal gemacht habe; dann kam die Babypause und später bin ich dort wieder eingestiegen. Leider gibt es den Kurs nicht mehr.
IAM: Sie haben damals als Querflötistin teilgenommen?
A. F.: Ja, ich bin dann aber im Laufe meines Lebens geswitcht. Mit Mitte 40 habe ich beschlossen: Ich möchte nicht mehr flöten! Ich war bis dahin Instrumentallehrerin und habe dann den Entschluss gefasst, Cello zu lernen, was ich immer schon wollte. Ich habe es dann tatsächlich auch so weit gebracht, dass ich bei Kursen mitmachen konnte – auch damals am Silvester-Kurs in Ochsenhausen.3 Dann habe ich mir einen Arm so unglücklich gebrochen, dass das Cellospielen nicht mehr ging, und jetzt bin ich seit sieben Jahren beim Horn gelandet. Und auch jetzt mit dem Horn fahre ich zu IAM-Kursen
IAM: Unglaublich! Würden Sie denn sagen, dass die Kurse einen Beitrag dazu geleistet haben, dass Sie noch weitere Instrumente gelernt haben?
A. F.: Nein, aber es ist natürlich immer eine Motivation zu sagen: Ich habe etwas an Orchestern oder an Gruppen. Dieses Zusammentreffen, dass man zum Teil immer noch Menschen trifft, bei denen man sagt: Mensch, wir haben doch damals, wo auch immer, zusammen musiziert – das ist schon so ein gewisser Mikrokosmos .
IAM: Das heißt, es haben sich für Sie auch Kontakte und vielleicht sogar Freundschaften aus den Kursen ergeben?
A. F.: Absolut, 100-prozentig! Und das war jetzt gerade, als ich in Remscheid war, ganz witzig: Als Bahnfahrerin guckt man schon einmal, wer eine Geige oder einen Fagottkoffer auf dem Rücken hat. Bei einer Dame, die mit uns in Köln gelandet war, stellte sich auf der gemeinsamen Rückfahrt heraus, dass sie 1976 auch in Bad Segeberg gewesen war. Das sind schon Dinge, die einfach schön sind. Oder als ich in Ochsenhausen 2004 einen Hornisten wiedergetroffen habe, mit dem ich in Bad Segeberg 1976/1977 zusammen im Orchester saß. Gerade die ganz alten Kontakte sind natürlich immer sehr lustig. Die neuen, die hat man sowieso immer.
IAM: Wenn wir jetzt noch einmal zeitlich zurückgehen, können Sie sich an den ersten Gedanken erinnern, warum Sie einen Kurs besuchen wollten und mit welchen Gefühlen Sie damals gestartet sind?
A. F.: Ich kannte das schon über das bayerische Landesjugendorchester und fand das damals schon so schön – diese Kombination aus ganz intensivem und sehr diszipliniertem Musikmachen und danach dieses freundschaftliche Zusammensitzen. Man hat Tischtennis gespielt, man hat Volleyball gespielt; die Nächte waren lang – oder kurz, je nachdem, von welcher Seite aus man es sieht. Diese Kombination von Musik, menschlichem Zusammensein und: Raus aus dem Alltag! Das ist es eigentlich. Was ich nicht brauche, das ist Schickimicki. Also manchmal denke ich, in Bad Segeberg, wo wir noch Etagenduschen hatten – das hatte ein anderes Flair als diese zum Teil sehr schönen Häuser, die uns dann manches schon wieder nehmen!
IAM: Würden Sie sagen, dass sich die Kursorte in diesem Sinne verändert haben?
A. F.: Ja, Kurse wie den in Bad Segeberg, gibt's schon gar nicht mehr. Ich bin – nicht, dass man mich falsch versteht – schon auch dankbar, wenn ich einen gewissen Standard habe. Aber manches Mal denke ich mir: Man setzt sich hin, lässt sich das Essen servieren, die räumen wieder ab – das brauche ich nicht! Ich kann meinen Teller selber irgendwo hintragen. Es hat ein Für und Wider. Bei den heutigen Kursen ist es für manche finanziell nicht mehr möglich teilzunehmen. Ich kann es mir leisten, kenne aber andere, die sagen: Das ist einfach zu teuer. Es ist schwierig; ich möchte nicht Veranstalter sein.
IAM: Gab es bei den Kursen, die Sie besucht haben, so etwas wie Rituale oder Traditionen, die sich fest etabliert haben?
A. F.: (überlegt) Über feste Rituale kann ich jetzt nichts sagen. Diese Stundenpläne bei den Kursen sind teilweise sehr ‚in Stein gemeißelt‘. Man kann vielleicht einmal darüber nachdenken, ob man daran irgendetwas ändern könnte.
IAM: Wie sieht so ein typischer Ablauf aus – für jemanden, der noch nie einen Kurs besucht hat?
A. F.: Das ist jetzt natürlich schwer zu sagen, weil ich so unterschiedliche Kurse kenne. Letztlich ist es so, dass es Tutti-Proben und Stimmproben gibt. Es gibt in vielen Kursen diese festen Kammermusik-Zeiten, die mich persönlich oft stören, weil ich gezielt zum Orchester-Spiel hinfahre. Früher haben wir tatsächlich in jeder Pause Kammermusik gemacht; nachts bis Mitternacht, und danach ging man noch etwas trinken. Dann hat man ein paar Stunden geschlafen und es ging weiter. Heute ist das sehr ritualisiert, also: Feste Kammermusik-Zeit von…bis…, mit dem und dem, dann spielen wir das und das – das haben wir früher nicht so gemacht.
Wir haben, glaube ich, mehr gespielt als heute, aber anders. Ich erinnere mich, mein inzwischen verstorbener Mann hat irgendwann gesagt: „Ich kann es nicht mehr hören!“, weil wir als Bläserquintett in Bad Waldsee4 ständig in unserem Stübchen saßen, sobald es eine Pause gab. Wir haben just for fun gespielt. Uns war klar, dass das ‚noch nichts‘ ist. Aber dieses unbekümmerte Ausprobieren und Spielen mit Menschen, die man mag – das war genial. Und das fehlt heute so ein bisschen.
IAM: Okay. Welcher Moment ist bei einem Kurs besonders aufregend?
A. F.: Oh, ich glaube, dazu bin ich zu abgebrüht…Ich mache Musik, seitdem ich sechs bin; das heißt seit über 60 Jahren.
IAM: Vielleicht das Abschlusskonzert?
A. F.: …wenn es überhaupt ein Konzert gibt. Diese Konzerte werden bei vielen Kursen ja nicht mehr gemacht. Es gibt stattdessen ein Werkstattkonzert, was ich gut finde, denn bei schwächeren Kursen wäre es nicht schön, ein öffentliches Konzert zu machen. Ich überlege, bei welchem Kurs noch ein Konzert gemacht wird – das ist der Silvesterkurs,5 bei dem ich nicht dabei bin, und der Kurs in Schöntal.6
IAM: An welchen Kurs oder an welchen Dozenten oder Dozentin werden Sie sich immer gerne erinnern und warum?
A. F.: Mike Steurenthaler, Bad Segeberg, 2002 mit Bruckner Vier – unvergessen im Ratzeburger Dom. Das war die Woche, die immer ‚meine‘ Woche war – früher mit Gisela Jahn, dann mit Mike Steurenthaler, der eingesprungen ist, als sie gestorben ist. Bruckner Vier mit einem Orchester in einer Woche ist eigentlich wagemutig. Wir hatten ab dem dritten Tag absolutes Kammermusik-Verbot. Wir haben uns daran gehalten und das Konzert war so (stockt) – mein Sohn war im Konzert und hat verstohlen auf die Uhr geguckt, wie viele Sekunden es waren, bis der erste Mensch sich nach dem Schlusston wieder bewegt hat. Es waren 20 Sekunden. Es war der Himmel auf Erden, für uns alle. Also, das war die Woche, die werde ich nie in meinem Leben vergessen.
IAM: Das ist dann wahrscheinlich auch das einprägsamste musikalische Erlebnis, nehme ich an.
A. F.: Ja, es gab viele andere mit Gisela Jahn: z. B. Der Bürger als Edelmann von Richard Strauß und Brahms‘ Serenade Nr. 2 op. 16 – da gab's viele schöne, tolle Momente. Aber Bruckner Vier – wenn ich nur die ersten drei Töne höre, dann merke ich: Das vergesse ich nicht mehr. Meine Tochter und mein Mann waren auch dabei; denen geht's genauso.
IAM: Toll! Was haben Sie von den Kursen in Ihren Alltag hineingenommen?
A. F.: Weil ich mein Leben lang Musik mache, ist das Erarbeiten von Musik für mich etwas ganz Normales. In den Alltag habe ich die Freundschaften mitgenommen, also mehr die menschliche Seite.
IAM: Wenn Sie im Kontext des Jubiläums, das ja jetzt ansteht, einen Wunsch frei hätten, wie könnte der aussehen?
A. F.: (lacht) Also, was ich mir vom bzw. für den IAM wünschen würde ist, dass er wieder bekannter wird. Wenn ich so im Freundeskreis erzähle, dass ich beim IAM-Kurs bin, fragen die: Was ist denn das? Das finde ich ganz traurig.
Ich würde mir wünschen, dass die niederschwelligen Kurse bleiben, aber auch ein bisschen mehr höherschwellige Kurse angeboten werden – das fehlt mir persönlich. Es gibt, wie gesagt, nur den Orchesterkurs an Silvester, zu dem ich aus diversen Gründen nicht fahre. Sonst gibt es keinen Kurs wie eben den Sommerkurs früher in Bad Segeberg. Das bedaure ich sehr. Jetzt muss ich gucken, was der BDLO7 oder Musica viva8 bieten. Die bieten auch einiges an, aber nicht so einen richtigen Hammer-Musikkurs. Alle, die jemals in Bad Segeberg waren, wissen sofort, was ich meine.
IAM: Sie haben also auch andere Kurse besucht, nicht nur welche des IAM. Gibt es irgendein Alleinstellungsmerkmal von IAM-Kursen?
A. F.: Das gab's früher! Wie gesagt, ich bin ja schon ein bisschen länger dabei – ich erinnere mich an Ochsenhausen, diese intensivsten Bläserproben. Jeder stellt sich vor, wir spielen schwere Stellen durch. Nein! Wir haben Intonation geübt. Der Dozent, ein Oboist, hat wirklich nur geguckt: Dieser Akkord, jener Akkord – wie baue ich Akkorde auf? Das gab's in der Form nur bei diesem Kurs. Auch so etwas wünsche ich mir wieder: Mehr Ohren, weniger Technik. Jeder guckt heute auf sein Stimmgerät. Manchmal denke ich, Stimmgeräte sollte man bei IAM-Kursen verbieten. Wir haben alle Ohren, man muss es den Leuten nur beibringen. Das wäre eine Aufgabe der Dozenten, wieder mehr zu sagen: „Hallo, hört mal!“, tatsächlich also diese musikalische Grundausbildung wieder ein bisschen aufzunehmen.
IAM: Denken Sie, dass die Teilnehmer sich auch ein bisschen geändert haben?
A. F.: Das glaube ich schon. Früher – Entschuldigung, ich sage immer ‚früher‘ und ‚heute‘ –, wenn wir uns zum Kurs vorbereitet haben, dann haben wir uns vorbereitet; wenn etwas zu schwer war, dann haben wir geübt. Heute ist es eher so, dass man hört: Ich habe den Dozenten angerufen; der kann das nicht so schnell machen. Ich denke mir dann: Geht es noch? Wenn ich mitspielen möchte, muss ich das machen, was der Dirigent sagt. Wenn er etwas im schnelleren Tempo haben will, dann muss ich üben. Das habe ich früher nie gehört, dass jemand sagte: Ich habe den Dirigenten angerufen; der muss das langsamer machen. Ich glaube, die ganz persönliche Leistungsbereitschaft hat abgenommen: Ich sperre mich jetzt mal vier Wochen lang eine Stunde in mein Kämmerchen ein und übe – ich glaube, das hat sich geändert. Mag sein, dass andere das anders sehen; aber das ist etwas, was meine Tochter, die auch Kurse besucht, durchaus auch erzählt.
IAM: Zum Schluss eine vielleicht etwas philosophische Frage. Welches besondere Potenzial hat Musik, und wie wird das an den Kursen deutlich?
A. F.: Musik hat für mich etwas total Verbindendes. Egal, ob ich die gleiche Sprache spreche oder nicht, man kann sich verständigen. Diese Momente, wenn man sich im Orchester die Blicke zuwirft – das ist unbeschreiblich.
(Das Gespräch wurde geführt und aufgezeichnet von Gabriela Lendle.)
1 12. Bergische Orchestertage, Mehrgenerationen-Orchesterkurs des IAM in Remscheid.
2 Gisela Jahn (1923-2000) war eine der ersten professionellen Orchesterdirigentinnen in Deutschland und leitete fast 30 Jahre, von 1970 bis 1999, eine jährlich in Bad Segeberg stattfindende Orchesterwoche beim IAM. Vgl. Elke Mascha Blankenburg, Art. „Gisela Jahn“, in: Dies., Dirigentinnen im 20. Jahrhundert. Portraits von Marin Alsop bis Simone Young, Hamburg 2003; S. 127. Siehe auch Gisela Jahn, AfH-Mitarbeiter im Selbstportrait, in: Musica 16 (1962), S. 120.
3 Die Orchester- und Kammermusikwoche zum Jahreswechsel fand von 1989-2015 in Ochsenhausen statt (unter Jürgen Klenk, 1990-96 – damals als Chor- und Orchesterwoche; Jürgen Oswald, 1997-2010 und Michael Hönes, 2011-15). Sie findet seitdem an wechselnden Orten statt; in diesem Jahr in Plochingen und weiterhin unter der Leitung von Michael Hönes.
4 Die jährlich im Sommer stattfindende Orchester- und Kammermusikwoche in Bad Waldsee fand von 1980 bis 1990 unter der Leitung von Prof. Heinrich von Stumpff statt, später unter der Leitung von Gerd Müller-Lorenz (1991-93), Dr. Claudia Kayser-Kadereit (1995-98) und Winfried Vögele (2016 bis heute).
5 Siehe Anm. 3.
6 Die jährlich im Sommer stattfindende Musikwoche Kloster Schöntal wurde von 1986 bis 2013 von Jürgen Klenk geleitet. Die Leitung seit dem Jahr 2014 liegt bei Winfried Vögele.
7 Der Bundesverband Deutscher Liebhaberorchester (BDLO) ist der Dachverband nicht-professioneller Kammer- und Sinfonieorchester.
8 Musica Viva ist ein Veranstalter von Ferien-Musikkursen für Erwachsene.